Iraklis Weihnachtsbaum

Die zehn Tage im Wald sind für den Tagelöhner gute Tage. In einer Saison kann er auf 1000 Euro kommen. Aber wenn man Irakli Isakadze für seine Schnelligkeit und seinen Wagemut in den Tannen lobt, wird er ungewöhnlich schweigsam. "Hauptsache, wir kommen alle sicher wieder runter", sagt er dann. Jedes Jahr verletzen sich Zapfenpflücker, manche sterben beim Sturz aus den Tannenwipfeln. Niemand schreibt den Männern vor, sich mit Gurt und Seil abzusichern. Auch Irakli klettert ohne. Text: Diana Laarz

 

Eine der Geschichten, die sich die Arbeiter an den Hängen des Kaukasus erzählen, besagt, ein Mann namens Valiko habe vor vielen Jahren an einem Tag 18 Nordmann-Tannen abgeerntet. Er kletterte am Morgen auf einen Baum, 50 Meter in die Höhe, und arbeitete sich dann von Wipfel zu Wipfel vor, kein Tannenzapfen blieb übrig. Am Ende des Tages sei er am 18. Baum wieder heruntergeklettert. Schneller sei nie wieder jemand gewesen. Valiko ist jetzt 84 Jahre alt, er klettert immer noch auf Tannen, man kann ihn im Wald treffen. Und er schwört, genauso wie es die jungen Arbeiter erzählen, habe es sich zugetragen. Unter den Zapfenpflückern Georgiens ist Valiko ein Held.

 

Heute ist Irakli Isakadze einer der schnellsten. Ein 27 Jahre alter Mann mit einem Bart, der länger als drei Tage gewachsen ist. Er verleiht dem jungenhaften Gesicht etwas Wildes. Es knirscht und raschelt, als Irakli Isakadze die ersten Meter der Tanne bezwingt. Mit Kopf und Schultern drängt er sich durch das Gestrüpp aus Tannennadeln und Zweigen. Den Blick hält er starr auf die moosige Rinde gerichtet, blind greifen seine Hände Äste, die so dick sind wie seine Unterarme. Er zögert keine Sekunde, es wirkt, als hätte Irakli Isakadze diesen Baum auswendig gelernt. Dabei ist es nur die Erfahrung, die ihm den Weg nach oben weist. Er klettert höher, die Äste werden immer dünner.

Harz, Staub und Moos bilden eine dicke Schicht auf der Haut

Im Wipfel der Tanne angekommen, dort, wo die Zapfen genug Sonne zum Ausreifen bekommen, umklammert er mit einem Arm die Spitze des Baumes, mit der anderen Hand pflückt er die Zapfen und wirft sie hinunter. Am Boden stehen Georgi, Tornike, Mindia und die anderen aus der Gruppe. Erst suchen sie Deckung vor den herabfallenden Tannenzapfen, klauben sie dann zusammen und stecken sie in Säcke. Nach kurzer Zeit kleben die Hände vom Harz der Zapfen. Staub, Dreck und Moos haften auf der Haut, sie bilden eine dicke Schicht, die nur viel Benzin und Kernseife wieder lösen kann. Irakli klettert dennoch lieber ohne Handschuhe: "So habe ich beim Klettern ein besseres Gefühl für die Äste", sagt er.
Die Tannenzapfen müssen noch geschlossen sein, aber schon eine leichte braune Färbung haben, so mögen es die Zapfenhändler aus Deutschland und Dänemark am liebsten. Jeder Zapfen, den Irakli von der Tanne holt, beherbergt bis zu 200 Samen in kleinen Kammern. Aus einem Kilo Tannenzapfen (rund 20 Stück) können bis zu 4000 Weihnachtsbäume für deutsche Wohnzimmer wachsen. Die Region, in der Irakli Isakadze und seine Freunde arbeiten, heißt Ambrolauri, etwa 200 Kilometer nordwestlich der georgischen Hauptstadt Tiflis gelegen.
Die über 5000 Meter hohen Gebirgszüge des Großen Kaukasus schirmten in der Eiszeit das Gebiet vor den Gletschern aus dem Norden ab und machten es zu einem Refugium für Pflanzen- und Tierarten, die andernorts von den Eismassen verdrängt wurden. Bis heute gehört das Gebiet zwischen Großem und Kleinem Kaukasus zu den artenreichsten der Welt. Auch exotische Koniferen wie die Nordmann-Tanne haben sich dort gehalten. 
Ambrolauri ist der wichtigste Ort für den internationalen Samenhandel und ein Gütesiegel für gute Tannenbäume, so wie es Bordeaux für gute Weine ist. Von Weitem sehen die Hügel von Ambrolauri aus wie mit einem dunkelgrünen Samtteppich ausgelegt, so dicht wachsen die Tannen. Hier entdeckte der finnische Botaniker und Zoologe Andreas von Nordmann im Jahr 1838 die Bäume, die später nach ihm benannt wurden: Abies nordmanniana. Gattung: Tanne, Familie: Kieferngewächse.


Bis zu 60 Meter wird die Nordmann-Tanne hoch. Weitere Eigenschaften: dunkelgrüne, seiden glänzende Nadeln, nicht stechend; pyramidaler, meist bauchiger Wuchs; etagenförmig angeordnete Zweige, sehr lange Nadelhaltbarkeit. Insbesondere deutsche Weihnachtsbaum-Liebhaber haben in der Nordmann-Tanne den perfekten Christbaum gefunden.

Als der Brauch im 17. Jahrhundert zuerst im Elsass populär wurde und immer weitere Kreise zog, schmückten die Menschen natürlich den Baum, der ihnen am nächsten stand: die heimische Weißtanne. Doch dieser Ur-Weihnachtsbaum hat nur seitlich an den Zweigen Nadeln, nicht aber auf der Oberseite wie die Nordmann-Tanne. Das Nadelkleid der Weißtanne wirkt deshalb dürrer. Auch andere Bäume kommen nicht an die Nordmann-Tanne heran: Die Fichte nadelt bereits nach wenigen Tagen; die dünnen Äste der Douglasie biegen sich, hängt man Weihnachtskugeln dran; und die Blaufichte hat pieksende Nadeln, die das Schmücken schmerzhaft machen können. So hat sich die Nordmann-Tanne zum Kassenschlager entwickelt: Von den 23 Millionen in Deutschland verkauften Weihnachtsbäumen sind heute 71 Prozent Nordmann-Tannen. Ein Geschäft mit einem Jahresumsatz von über einer halben Milliarde Euro.
Anfang Oktober verlassen georgische Männer deshalb ihre Dörfer und schlagen in den kaukasischen Wäldern ihre Lager auf. Im Jeep von Georgi, der sich über steile, matschige Wege in den Wald quält, sitzt auch Irakli Isakadze. Die Männer witzeln, der Sowjetjeep hätte wahrscheinlich einmal Stalin höchstpersönlich gehört. Alt genug ist das Auto, und das Lenkrad ist aus Elfenbein. Sie bleiben kaum länger als zehn Tage im Wald. Die Erntesaison ist kurz, die Zapfen müssen vom Baum, bevor die Samen herunterregnen. Die Gruppe um Isakadze übernachtet in einem Armeezelt, den Boden haben die Männer mit Tannenzweigen ausgelegt. Am Abend nach einem langen Tag gibt es Dosenfleisch, Brot, Soße aus Wildpflaumen und zu viel selbst gebrannten Schnaps.

"Hauptsache, wir kommen alle sicher wieder runter"

Irakli Isakadze ist ein kräftiger Mann, der gern zeigt, was er kann. In den Arbeitspausen ringen die Männer miteinander auf dem Waldboden, Irakli wirft sich lachend auf seinen Gegner und drückt ihn zu Boden. Er hat keinen festen Job, aber eine geschiedene Frau und drei Kinder in Tiflis zu versorgen. Dort hat er mal für einen Brothändler gearbeitet, sieben Tage die Woche, zwei Tage im Jahr frei. Doch dann stritt sich Irakli mit seinem Chef über die Arbeitszeiten und wurde gefeuert. Er saß kurze Zeit später drei Jahre im Gefängnis. Die georgische Polizei hat ihm, so sagt er, bei einer Kontrolle ein Tütchen mit Marihuana untergeschoben.

Die zehn Tage im Wald sind für den Tagelöhner gute Tage. In einer Saison kann er auf 1000 Euro kommen. Aber wenn man Irakli Isakadze für seine Schnelligkeit und seinen Wagemut in den Tannen lobt, wird er ungewöhnlich schweigsam. "Hauptsache, wir kommen alle sicher wieder runter", sagt er dann. Jedes Jahr verletzen sich Zapfenpflücker, manche sterben beim Sturz aus den Tannenwipfeln. Niemand schreibt den Männern vor, sich mit Gurt und Seil abzusichern. Auch Irakli klettert ohne. 

Im vergangenen Jahr erhielten die Zapfenpflücker von Zwischenhändlern 85 Cent für jedes Kilo. Doch plötzlich sollen die Zapfen nur noch kaum mehr als die Hälfte wert sein. Zapfenpflücker, die drei Kilometer von Irakli und seinen Freunden entfernt arbeiten, streiken: Sie klettern heute auf keinen Baum. Ein weißhaariger Mann mit Vollbart und Brille kommt zu ihnen auf die Waldlichtung. Er gestikuliert mit wilden Handbewegungen. Dieser Mann ist Børge Klemmensen, Vertreter der dänischen Baumschule Levinsen & Abies, einem der großen Samenhändler in den georgischen Wäldern. Klemmesen ist da, um sie zur Arbeit zurückzutreiben.

Børge Klemmesen ist in einer komfortablen Situation. Die Zapfenernte in diesem Jahr ist ausgezeichnet. Es gibt mehr Zapfen, als je Weihnachtsbäume benötigt werden. Und die Qualitätsprüfer finden so gut wie keine Schädlinge in den Zapfen. Wegen des Überflusses will Levinsen & Abies in diesem Jahr nur noch 43 Cent pro Kilogramm Zapfen bezahlen. Die Lösung, die Klemmensen und die Zapfenpflücker schließlich aushandeln, klingt nur beim ersten Zuhören gut. Levinsen & Abies zahlt die 85 Cent. Doch wenn 150 Tonnen gesammelt wurden, gibt es viel weniger, etwa 30 Cent pro Kilogramm - was mit hoher Wahrscheinlichkeit einen guten Teil der Ernte betreffen wird.

Die Auktionen um die Lizenzen sind korruptionsumwittert

Levinsen & Abies besitzt die Nutzungsrechte für mehrere Planquadrate im georgischen Kaukasus. Die Lizenzen verkauft die georgische Regierung bei Sitzungen im Wirtschaftsministerium. Die Auktionen sind populär, das georgische Fernsehen berichtet live. Und sie sind ähnlich korruptionsumwittert wie die Entscheidungen der FIFA über die Vergabe der Fußballweltmeisterschaften. Ein Bieter, der bei der letzten Auktion 2009 in Tiflis mit am Tisch saß, berichtet, damals habe das Wirtschaftsministerium einen Tag vor der Versteigerung die Erntequote eines Unternehmens um so viele Tonnen erhöht, dass damit der Bedarf an Tannensamen für ganz Westeuropa gedeckt werden könnte. Für dieses Entgegenkommen soll angeblich kein Geld geflossen sein. Normalerweise kosten die Nutzungsrechte einige Millionen Euro, die Lizenz gilt für zehn Jahre.
Irakli Isakadze würde sich wundern, wüsste er vom Wertzuwachs seiner Zapfen mit jedem weiteren Verarbeitungsschritt: Sie werden einige Monate getrocknet, in Georgien oder später bei den westeuropäischen Weihnachtsbaumzüchtern. Die sitzen größtenteils in Dänemark und Deutschland. Dort wird ein Kilo Samen für 40 bis 80 Euro gehandelt - also bis zum Zehnfachen des Preises, den Irakli erzielt. In Baumschulen keimen die Samen, die Setzlinge treiben zwei bis drei Jahre und wachsen schließlich auf einer Plantage zu Weihnachtsbäumen heran.

Nordmann-Tannen eignen sich gut als Plantagenbäume, denn sie mögen freie Flächen, anders als unsere heimische Weißtanne, die im Schatten anderer und damit älterer Bäume gut gedeiht. Nordmann-Tannen wachsen langsam und haben dicht übereinanderliegende "Astquirle". Das sind die tannentypischen Zweig-Etagen. Jedes Jahr treibt eine Knospe aus dem Baumwipfel in die Höhe, die anderen Knospen wachsen zur Seite und bilden dadurch gemeinsam einen Jahrestrieb - den Astquirl. An Heiligabend lässt sich also am Weihnachtsbaum ablesen, wie lange er gewachsen ist. Für zwei Meter braucht eine Tanne zehn Jahre und hat dann also zehn Astquirle - ideal zum Aufhängen von Kugeln und Engeln. Preis: bis zu 40 Euro für ein Exemplar.

Auf die Samenzufuhr aus dem Kaukasus können die Plantagen in Europa noch lange nicht verzichten: Die keimfähigsten Samen stammen von mindestens 70 Jahre alten Bäumen. So alte Exemplare gibt es auf den Plantagen in Dänemark und Deutschland aber nicht. Setzlinge aus Samen von jüngeren Bäumen haben sich außerdem als weniger winterfest erwiesen als kaukasische. Dort sind die Pflanzen an längere Winter angepasst. Die Zapfenpflücker in Ambrolauri werden also in absehbarer Zeit Arbeit genug haben - wenn auch eine gefährliche.