Es gibt in Estland eine Stadt, in der gibt es eine Straße, die nach einem berühmten russischen Schriftsteller benannt ist. Dort kann man ein altes, grünes Holzhaus finden, verwittert von den kalten Wintern, mit Veranda und verzierten Fenstern. Von Generationen bewohnt, geschichtsträchtig und seit jeher das Zuhause junger Studenten und Kreativer, Faulenzer und Eigenbrötler, steht es neben all den anderen klapprig anmutenden Häusern und Schuppen in Karlova, einem ehemaligen Arbeiterviertels Tartus.
Manchmal wohnen 16 Menschen gleichzeitig darin. Manchmal mehr, manchmal weniger. Für viele von ihnen nur eine kurze Station, ist dies ein für Estland ungewöhnlicher Lebensentwurf. Kaum einer wohnt hier länger als ein paar Jahre, dann geht es weiter, Träume wollen gelebt, Ziele erfüllt werden, irgendwann hält es auch der professionellste Faulpelz nicht mehr aus. Es gibt kein Plenum und auch keine Mülltrennung, Gemeinschaft wird nicht verordnet sondern passiert. Irgendwie.

Dies ist eine Geschichte über das Zusammenleben junger Menschen, über Optimismus und Identitätssuche.

 

 

 

Nach einem halben Jahrhundert der Zugehörigkeit Estlands zur Sowjetunion und der 1991 wiedergewonnenen Unabhängigkeit, wächst die junge Generation inmitten einer von sowjetischem Erbe und westeuropäischer Orientierung geprägten Gesellschaft auf.
Während die Wirtschaft boomt und viele europäische Staaten neidisch auf die vergleichsweise winzige Verschuldung des Landes schauen, der Euro eingeführt und das kleine Estland mit seinem Image als junger und Hightech-begeisterter Baltischer Tiger zum politisierten Vorbild wird, bleiben die Löhne und Ausbildungschancen niedrig. Viele junge Esten zieht es ins Ausland – so viele, dass das Problem der Abwanderung als eine ernste Gefahr für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaften wahrgenommen wird.

Tolstoi, das ist ein Ort, an dem kaum darüber gesprochen wird. Es ist, als würde man all das ignorieren und versuchen, ein eigenes, bescheidenes aber funktionierendes Universum zu erschaffen. Aber ich frage mich, ob es für manche junge Menschen in Europa plötzlich andere Ideale und Vorstellungen eines erfüllten Lebens gibt, in denen Geld wichtig ist – aber Reichtum eine andere Bedeutung bekommt.

 

 

Ausgezeichnet mit dem n-ost Reportagepreis 2014 in der Kategorie Foto / Audioslideshow

Honorable Mention – FotoVisura Spotlight Student Grant 2014

Veröffentlicht in GEO Deutschland 08/2013, GEO International 06/2014, 6Mois No 6 – Automne 2013 / Hiver 2014


Ausstellungen:

Les Nuits Photographiques Paris, Juni 2014
Lumix Festival für jungen Fotojournalismus Hannover 2014


FotoVisura Spotlight Exhibition
Brisbane Powerhouse – 2014

 

Head On Photo Festival
Brenda May Gallery – Sydney – 2014

Visa pour l'image – Visa Off – 2014

Changing Realities – U-Bhf. Berlin Alexanderplatz – 10/11 2014